Internet-Challenges – Herausforderungen auch für Lehrkräfte

Interview mit Professor Markus Prechtl zum Umgang mit digitalen Mutproben

2022/05/31 von

Auf Waschmittelkapseln beißen, den nackten Oberkörper anzünden, einen Löffel voll Zimt schlucken und sich dabei auch noch filmen: Diese und andere Internet-Challenges sind schon länger Bestandteil der digitalen Kultur. Verbreitung finden sie vor allem über Social-Media-Kanäle. Ein Forschungsteam um Professor Markus Prechtl aus der Arbeitsgruppe Fachdidaktik Chemie der TU Darmstadt befasst sich wissenschaftlich mit dem Phänomen.

Professor Prechtl, was sind Internet-Challenges?

Internet-Challenges sind Videos, in denen Personen sich selbst bei Aktionen und Mutproben filmen, wodurch sich andere dazu herausgefordert fühlen können, diese zu wiederholen. Dabei wird die eigene Wagnisbereitschaft vermeintlich oder tatsächlich dokumentiert, mit dem Ziel, mit den Videos möglichst viele Klicks zu erzielen. Verfolgt ein Millionenpublikum die oft skurril anmutenden Challenges im Internet, gelten die Videos als viral und somit als erfolgreich.

Weit verbreitet sind Challenges, bei denen eklige Lebensmittelmischungen konsumiert werden, der eigene freie Oberkörper mithilfe von hochprozentigem Alkohol entzündet und selbst gelöscht wird oder ein Sprung vom Balkon in den Pool des Hotels gewagt wird. Sehr bekannt ist das Video einer Frau, die vor der Kamera einen Löffel voll mit Zimt geschluckt hatte und in Atemnot geraten war. Ihre Cinnamon-Challenge wurde bis dato über 58,5 Millionen Mal aufgerufen.

Große Bekanntheit hat vor einigen Jahren die Ice-Bucket-Challenge erlangt, bei der zu Spenden für die Erforschung der Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) aufgerufen wurde. Dabei schütteten sich die Teilnehmenden einen Eimer mit Eiswasser über den Kopf, verkündeten die Höhe ihres Spendenbeitrags und forderten weitere Personen dazu heraus, es nachzumachen.

Sie bilden zukünftige Lehrkräfte für Chemie aus. Woher stammt Ihr Interesse für Internet-Challenges?

In unserer Forschung interessieren wir uns aus didaktischer Perspektive für die Untergruppe der substanzbezogenen Internet-Challenges. Hierbei werden über Mund, Nase, Augen oder die Haut Substanzen aufgenommen – meist alltägliche Lebensmittel oder Haushaltswaren wie Speisesalz, Zimtpulver, Chilischoten, Deodorant oder Waschmittelkapseln. Diese Challenges lassen sich leicht nachahmen und werden als scheinbar ungefährlich wahrgenommen, bergen allerdings erhebliche gesundheitliche Risiken, die den Teilnehmenden der Challenge oft nicht bekannt sind. Ich nenne ein konkretes Beispiel: Bei der Deo-Challenge entleeren Jugendliche den Inhalt des Sprays ganz nah am Unterarm. Es kommt zu einer drastischen Abkühlung bis minus 30 Grad Celsius, die die Haut nachhaltig schädigt. Die Gefahr wird nicht erkannt, da die Haut im Moment des Sprühens taub ist.

Unser Interesse für Internet Challenges speist sich aus verschiedenen Quellen. Julia Werthmüller aus unserem Team wollte das Phänomen aus medienpädagogischer Perspektive verstehen lernen. Bei mir hießen die Ausgangspunkte Gesundheitsbildung und Gender Studies. Wir sind uns darin einig, dass Lehrerinnen und Lehrer Internet-Challenges kennen und angemessen darauf reagieren sollten, damit sie ihre Schülerinnen und Schüler mit fachlich fundierter Überzeugungsarbeit von Gesundheitsgefährdungen abhalten können.

Wie häufig treten solche Phänomene auf und über welche Kanäle werden Sie verbreitet?

Unsere Sichtungen zeigen, dass Challenges regelmäßig auftreten und dass es immer wieder neue Trends gibt. Das Spektrum an Challenges ist breit. Überwiegend positive Berichterstattungen finden sich zu Aktionen, die auf soziale Anliegen hinweisen, wie die schon erwähnte Ice-Bucket-Challenge, und zu Aktionen, bei denen es um Geschicklichkeit und Koordination geht, zum Beispiel Bottle Flip und Planking. Kritisch und warnend wird über risikoreiche Challenges berichtet, beispielsweise über die Tide-Pod-Challenge, bei der eine Waschmittelkapsel gekaut wird. Unsere Auswertung von über 2.000 Videos im Jahr 2015 zeigte, dass Substanzen primär über den Mund aufgenommen (46,2 Prozent) oder mit der Haut in Kontakt gebracht wurden (17,7 Prozent). Hierzu zählten unter anderem die Cinnamon-Challenge, die Chili-Challenge und die Deo-Challenge.

Für das Teilen von Challenges ist das Videoportal YouTube der wichtigste Kanal. Darauf basiert auch unsere Forschungsarbeit. Auf anderen Kanälen gibt es das Phänomen noch nicht so lange. Wir sehen aktuell, dass Challenges mehr auf TikTok auftauchen, da hier das Regelwerk weniger streng ist als die YouTube-Community-Richtlinien.

Warum lässt man sich bei gesundheitsgefährdenden oder strafbaren Handlungen filmen?

Die Inspiration zu einer Challenge kommt nicht aus dem Nichts. Sie basiert auf Vorwissen. Vor ein paar Jahren waren Konzeptideen für Challenges Realityshows entliehen („Jackass“, „Fist of Zen“, „Silent Library“ etc.). Aktuell trifft das nicht mehr zu. Jugendliche orientieren sich zunehmend mehr an „Peer-Idolen“. Interessant ist, wer hohe Aufrufzahlen und Likes bekommt.

Julia Werthmüller legt in ihrer Arbeit dar, dass sich die Mitwirkenden im Rahmen einer Challenge-Replikation einerseits konform verhalten, das heißt, an vorgefasste Regeln halten, und damit den kollektiven Referenzrahmen würdigen. Andererseits punkten sie mit Individualität bei den Usern. Sie heben sich vom Mainstream ab, wenn die Replikation eine persönliche Note erhält. Dies führt oft dazu, dass Substanzmengen hochskaliert werden, um Aktionen „krasser“ zu gestaltet. Letztendlich geht es darum, dazuzugehören und positives Feedback zu erhalten. Ob den Akteurinnen und Akteuren die Balance zwischen Konformität und Individualität gelungen ist, wird ihnen über Kommentare und Likes zurückgespiegelt.

Ein weiterer Aspekt ist die algorithmische Sortierung von YouTube und das damit verbundene Problem der Filterblase. Im Fall von Challenges sind selektiv gefilterte Informationen problematisch, da sich die zuschauenden Personen nach einigen positiv endenden Wagnissen sicher wähnen, eine Challenge, inklusive Risiken für die eigene Gesundheit, verstanden zu haben. Negative Konsequenzen werden ausgeblendet. Dadurch wird die Hemmschwelle, eine Challenge selbst auszuprobieren, herabgesetzt.

Was wissen Sie über die Personen, die Challenges annehmen und verbreiten?

In den Videos spiegeln sich alle Phasen der Adoleszenz wider. Vor der Kamera agieren mehr Männer als Frauen. Es gibt Ad-hoc-Videos, die spontan entstehen, und professionelle Produktionen, mit denen Influencerinnen und Influencer ihren Lebensunterhalt verdienen.

In einem meiner Seminare war ich erstaunt, dass sich Studierende zu ihrer Teilnahme an Challenges bekannten. Eine Studentin sagte, ihr sei es retrospektiv betrachtet peinlich, dass sie eine Hautstelle ihres Unterarms mit der Deo-Challenge geschädigt hat. Aber nun möchte sie mit ihrem Bekenntnis andere vor Schaden bewahren. Ihre Offenheit hat mich berührt. Ich kann nachvollziehen, dass auch reflektierte Menschen zuweilen unbedacht handeln oder sich durch Peers beeinflussen lassen.

Ihr Fazit aus Forschungsperspektive: Sollten die Challenges Stoff im Chemie-Unterricht sein?

Genau diese Frage diskutiere ich mit unseren Studierenden. Diese befürchten einerseits, dass das Thema Schülerinnen und Schüler erst auf dumme Gedanken bringen könnte. Anderseits sehen sie den Wert der Prävention. Ich persönlich vertrete einen Pro-Standpunkt und führe als Argument an, dass im Unterricht auch über Alkohol und Drogen gesprochen und dies mehrheitlich befürwortet wird. Da es gegenüber der Thematisierung von Challenges im Unterricht Vorbehalte gibt, hat Julia Werthmüller in ihrer Forschung erst einmal die Perspektive der Lehrkräfte eingehend untersucht. Sie konnte zeigen, dass Lehrerinnen und Lehrer sich unsicher im Umgang mit dem für sie neuen Internet-Phänomen fühlen und zuweilen Gefährdungspotenziale von Challenges falsch einschätzen. In unseren Fortbildungen zu Challenges zeigen sich Lehrkräfte interessiert, zuweilen auch schockiert, und am Ende dankbar für die neuen Impulse, mit denen sie ihren Unterricht optimieren.

Professor Markus Prechtl
Professor Markus Prechtl

Publikationen zum Forschungsthema

Werthmüller, Julia (2022): Substanzbezogene Internet-Challenges – Perspektiven von Lehrpersonen und chemiedidaktische Implikationen. (Verlagsversion der Dissertation) Darmstadt, Technische Universität, DOI: 10.26083/tuprints-00020596.

Prechtl, Markus (2020). Lehrkräfte sollten sie kennen: Internet-Challenges. Chemie in unserer Zeit, 54, S. 56-62. DOI:10.1002/ciuz.201900877